sábado, marzo 25, 2006


ROMERIA EL ROCIO





ROMERIA EL ROCIO - WAS IST DAS:

Hunderttausende Pilger machen sich in der Woche vor Pfingsten auf den Weg zur Heiligen Jungfrau vom Morgentau ins andalusische El Rocio. Zu Fuß oder Pferd, mit dem Ochsen oder Auto. Es ist die fröhlichste Wallfahrt Spaniens.
Mittwoch vor Pfingsten, morgens um halb elf, im andalusischen Jerez de la Frontera: Unter Glockengeläut und Hufgetrappel brechen die Pilger zur Wallfahrt nach El Rocio auf, zur Heiligen Jungfrau vom Morgentau, Königin der Salzsümpfe, der weißen Taube und Mutter Gottes. In das Dröhnen der Trommeln und das Gerassel der Kastagnetten mischen sich Hochrufe: "Viva la virgen del Rocio, viva, viva!" Die Frauen in ihren barocken gelben, grünen, roten oder blauen Rüschenkleidern sehen aus wie Paradiesvögel. Elegante Männer in Bolero-Jacken, dunkelblauen Nadelstreifenhosen und mit Hüten auf den Köpfen thronen stolz auf nicht minder stolzen Rössern, die Zügel in der linken Hand, die Rechte lässig an der Hüfte.
Eine Million Menschen pilgern alljährlich zu Pfingsten nach El Rocio, um die Heilige Jungfrau anzubeten. El Rocio ist ein kleines Dorf in den Sümpfen des Coto de Doñana, es hat nur dreihundert Einwohner. Der Legende nach hat hier ein Jäger vor ungefähr 700 Jahren im Morgentau ­ (spanisch rocio) ­ eine hölzerne Madonna gefunden. Seitdem haben Gläubige, vor allem die Armen, sie in Notzeiten aufgesucht, um ihre Hilfe zu erflehen. Heutzutage ziehen auch die Reichen mit und nutzen die Wallfahrt zur spektakulären Selbstdarstellung.

Zu Pferd oder zu Fuß, mit Planwagen, Eselskarren und Autos pilgern die Wallfahrer auf seit Jahrhunderten ausgetretenen Pfaden, die sternförmig auf El Rocio zulaufen. Drei bis fünf Tage dauert der Weg zum Wallfahrtsort. "Hacer el camino", den Weg machen, wie die Andalusier sagen, ist gleichzeitig eine Metapher für die Pilgerschaft durchs Leben. Für das Schwere und das Leichte, die Anstrengung und die Fröhlichkeit. Wohl deshalb ist schon der Weg zum größten Fest des Jahres, der stellenweise äußerst beschwerlich ist, selber ein rauschhaftes, sinnliches Fest, das in seinem heidnischen Überschwang so unfromm wie Karneval wirkt.

In ganz Spanien organisieren sich die religiösen Bürger eines Ortes, Frauen wie Männer, in vereinsähnlichen Bruderschaften, die jedes Jahr die Wallfahrt vorbereiten: Planwagen besorgen, Schinken und Sherry, Girlanden und Matratzen.

Temperamentvoll tänzelnd, den Hals rund gebogen, stolzieren die Pferde im Zug der Bruderschaft voran. Mit hoch ausgreifenden Vorderbeinen demonstrieren sie spanische Hofreitschule, natürlich ist viel Show dabei. Als der Pilgerzug eine Hacienda passiert, schließt sich der Großgrundbesitzer auf seinem Apfelschimmel an: Laut trompetend platzt der langmähnige Hengst in die Gruppe; der Reiter läßt ihn auf der Stelle galoppieren, daß die Eisen Funken schlagen. Die anderen Pferde stieben vor Schreck auseinander.

Am späten Nachmittag, nach 23 Kilometer Marsch oder Ritt, erreicht die Karawane das Fischerstädtchen Sanlucar de Barrameda. Dort, wo der Guadalquivir in den Atlantik mündet, treffen Zehntausende von Pilgern aus der Nachbarschaft ein, um per Fähre über den träge fließenden Strom zu setzen. Mit Pferd und Planwagen, Eseln, Ochsen, Traktoren. Das dauert Stunden. Aber Warten bedeutet Picknick, und das heißt Klatschen, Singen und Tanzen. Der populäre Antonio Aleman singt alte Volksweisen zur Gitarre: "Wenn ein Freund von dannen zieht, stirbt ein Teil deiner Seele." Oder "Küsse mich, küsse mich immer ­ als wär´s das letzte Mal."

Am anderen Ufer beginnt die Dünenlandschaft des Coto de Doñana ­ Nationalpark seit 1969. Bis Mitternacht hat jeder sein Lager aufgeschlagen, die verschwitzten Mulis ausgespannt, die Pferde abgesattelt. Zwischen den Pinien flackern Feuer, es riecht nach Scampis, Paella und gebratenem Fleisch. Die Leute besuchen und bewirten einander und stehen ­ in Ponchos gehüllt ­ am Feuer zusammen.

Der alte Gregorio beginnt die Trommel zu schlagen. Esperanza, eine junge Frau mit schwerem honigblondem Haar, erhebt ihre Stimme zum Cante jondo, singt aus gepreßter Kehle im arabisch-monotonen Stil. Die Zuhörer antworten mit einem tiefen, wohlwollendem "Ooo-lé" und klatschen den Trommelrhythmus leise mit.

Ein Paar nach dem anderen tanzt im Kreis von Freunden und Bekannten, eine rumba flamenca oder die sevillanas por Rocio. Zum Auftakt so eines Tanzes, der balzenden Großtrappen abgeguckt scheint, beginnen Frau und Mann ein intimes Zwiegespräch mit den Augen. Bei Fremden kann schon der erste Blick entscheiden, ob zwischen ihnen jenes unsichtbare Band entsteht, das ihre Schritte zu einer erotischen Choreographie synchronisieren wird.

Beide Tänzer beschreiben mit den Armen ein Rad wie ein Pfau, der sein Prachtgefieder spreizt ­ "sieh an, wie schön ich bin". Dann nähern sich die Tanzenden bis auf eine Handbreit, blicken sich tief in die Augen, Begehren flackert auf ­ und gleiten doch aneinander vorbei. Die Verführungsversuche beginnen aufs neue, der nächste Paseo, das ewige Spiel. Das Publikum ruft begeistert "olé, que arte!" Die Trommel, das dumpfe tßm-ta-ta, tßm-ta-ta, tßm-ta-ta, hallt bis zur Morgendämmerung.

Am nächsten Tag schlafen ein paar alte Männer unter einer Schirmpinie ihren Rausch aus. Über dem verlassenen Rastplatz kreisen Bussarde, Milane und Weihen. Die Pferde stapfen in der Wagenspur durch den knöcheltiefen Sand der Dünen. Meterhohe Staubschleier wirbeln durch die Luft. Viele Wanderer haben sich Taschentücher vor Mund und Nase gebunden.

Eine Reiterin mit leuchtendgrünen Augen bietet einem Wanderburschen hinten auf ihrem Pferd Platz. Johlende Kommentare von den Kumpeln, neidische Blicke. Der Kavalier auf der Kruppe singt, vor Stolz schier berstend: "Oh, du Schönste aller Frauen, dein Blick tötet den Mann und ruiniert Herzen."

Damit der heilige Grund der Pilgerfahrt nicht völlig vergessen wird, versammelt der Oberhirte seine übermütigen Schäfchen ab und zu am Madonnenwagen zu einer Kurz-Messe. Der Silberkarren der Muttergottes, mit weißen Gladiolen und Nelken geschmückt, wird traditionell von zwei oder vier Ochsen im Joch gezogen. Die massigen Tiere wirken inmitten der tänzelnden Menschen und Pferde so urtümlich wie Dinosaurier ­ sie sind die einzigen, die wirklich leiden. Durstig, mit Schaum vorm Maul und heraushängender Zunge quälen sie sich durch den Sand.

Am späten Freitag nachmittag taucht am Horizont die weißgetünchte Kathedrale von Rocio auf, rundherum Salzwiesen. Im Licht der tiefstehenden Sonne leuchtet sie grell und verheißungsvoll. Mit seinen breiten Sandboulevards hat das Dorf Rocio den Charme einer Westernstadt: Die passende Kulisse für das grandios improvisierte Theater der nächsten beiden Tage.

Die Bruderschaften und die reichen Familien beziehen ihre Häuschen im Umkreis der Kirche. Sie empfangen Gäste zu einem Drink auf der Veranda, vor der die Kutschen parken und die angebundenen Pferde warten. Um Rocio bildet sich ein Ring von Zeltlagern, in denen die Mehrheit der Pilger ­ im Staub ­ campiert.

Am Abend fahren José-Antonio und Paco im Auto durch Rocio. Die beiden jungen Männer singen, klatschen und blödeln ununterbrochen. José schlägt das Tamburin aufs Lenkrad und singt aus vollem Halse: "Was willst du? Daß ich dich fresse wie ein Tiger, fresse wie ein Tiger, fresse wie ein Tiger?" Der Gag liegt im Klang, ein spanisches "Fischers Fritze..." Doch dann möchte er die Madonna sehen. Von einer Zigeunerin kauft er Opferkerzen und schiebt sich ins Gedränge vor der Kathedrale. Frauen wie Männer kommen mit Tränen in den Augen heraus.

Vor der Madonna ­ liebliches Puppengesicht, auf dem Schoß ein winziges Kind ­ verfällt José augenblicklich in religiöse Andacht. Mit gesenktem Kopf, das Tamburin um den Hals, bekreuzigt er sich mehrmals, murmelt ein Gebet. Dann steckt er die Kerze an. Hunderte brennen schon. Die gekachelten Wände reflektieren die Hitze ­ wie in einem Backofen. Kaum wieder draußen ist die religöse Andacht von José-Antonio wie verflogen; er schlägt das Tamburin, lacht und röhrt: "Oh, mein dunkles Blut." Mit seinem Freund besucht er ein Haus, wo die Wallfahrer bis zum Morgen exzessiv tanzen und flirten.

Am Sonnabend präsentiert sich jede Bruderschaft vorm Portal der Kathedrale, um den Segen des Bischofs zu empfangen. Der Madonnenwagen der Insulaner von Gran Canaria ist über und über mit Bananen, Auberginen, Mais und Blumen geschmückt, wie ein Altar zum Erntedankfest.

In den Gassen herrscht dichtes Gedränge. Eine hochherrschaftliche Droschke mit vier Rappen prescht im Galopp vorbei. Die Standesunterschiede bleiben bei aller Volkstümlichkeit des Festes unübersehbar. Die Reichen reiten die edelsten Pferde in der prunkvollsten Zäumung. Sie tragen die teuersten Roben ­ allein das Kleid 1 000 Mark ­ und den unnachahmlichen Blick angeborener Erhabenheit: über Generationen kultiviert und von Kind an trainiert. Dagegen wirken die Armen, obwohl nicht minder herausgeputzt, wie Komparsen. Steifes Polyester neben fließendem Crêpe de Chine oder den Baumwoll-Viskose-Kleidern des Mittelstandes.

In der Nacht zum Pfingstmontag erreichen die Feiern ihren religiösen Höhepunkt. Um zwei Uhr beginnt die Prozession der Madonna durch El Rocio. Nur die Männer von Almonte, der ältesten, 1648 gegründeten Bruderschaft, genießen das Privileg, die silberne Sänfte mit der Muttergottes auf ihren Schultern zu tragen. Aber Fanatiker setzen alles daran, wenigstens einen Zipfel des Brokatgewandes zu berühren. Aggressiv kämpfen sie sich durch die Masse, überwinden Absperrungen und bedrängen die Träger derart, daß die Sänfte ins Wanken gerät und wie ein kenterndes Segelschiff zur Seite taumelt. Religiöse Verzückung geht einher mit Panik und Tumult. Ein junger Kerl von der Statur eines Ochsen weint hemmungslos, während er mit rotgeschwollenen Augen gebannt auf die Madonna starrt. Seine schmächtige Freundin streichelt ihm tröstend übers Haar. Niemand nimmt daran Anstoß, weinende Männer müssen sich hier nicht schämen.

Gegenüber der Kirche halten sich Ambulanzwagen bereit; jedes Jahr gibt es Verletzte oder gar Tote, wird einer im Gedränge von einem Trecker überrollt, stirbt jemand an Herzversagen. Dreizehn Stunden lang, bis nachmittags um drei, wird die Heilige Jungfrau durch Rocio getragen, zu jeder der neunzig Bruderschaften. Unentwegt läuten die Glocken.

Montag abend ist das tolle Treiben schlagartig vorbei. Die Pilger sind abgereist, das Dorf liegt verlassen wie eine Geisterstadt. Oder eine Müllhalde: Leere Flaschen am Straßenrand, Plastiktüten und Papier wirbeln im Staub. Eine Woche wird die Reinigung dauern, erzählt Pepe, der Pferdezüchter. Trotzdem meint er: "Wir sollten zum Bürgermeister gehen und fordern: Elf Monate Rocio, einen Monat zum Ausruhen."